Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit - Kapitel 13
Der Pakt
Gerade weil Lenin um das Aufsehenerregende und Herausfordernde
seines Schrittes weiß, handelt er mit möglichster Offenheit. In seinem
Auftrag begibt sich der schweizerische Gewerkschaftssekretär Fritz
Platten zu dem deutschen Gesandten, der schon vordem allgemein mit den
russischen Emigranten verhandelt hatte, und legt ihm die Bedingungen
Lenins vor. Denn dieser kleine unbekannte Flüchtling stellt – als ob er
seine kommende Autorität schon ahnen könnte – keineswegs eine Bitte an
die deutsche Regierung, sondern legt ihr die Bedingungen vor, unter
denen die Reisenden bereit wären, das
Entgegenkommen der deutschen Regierung anzunehmen: daß dem Wagen das
Recht der Exterritorialität zuerkannt wird. Daß eine Paß- oder
Personenkontrolle weder beim Eingang noch beim Ausgang ausgeübt werden
dürfe. Daß sie ihre Reise zu den normalen Tarifen selbst bezahlen. Daß
ein Verlassen des Wagens weder angeordnet noch auf eigene Initiative
stattfinden darf. Der Minister Romberg gibt diese Nachrichten weiter.
Sie gelangen bis in die Hände Ludendorffs, der sie zweifellos
befürwortet, obwohl in seinen Erinnerungen über diesen welthistorisch
vielleicht wichtigsten Entschluß seines Lebens kein Wort zu finden ist.
In manchen Einzelheiten versucht der Gesandte noch Änderungen zu
erreichen, denn mit Absicht ist das Protokoll so zweideutig von Lenin
abgefaßt, daß nicht nur Russen, sondern auch ein Österreicher wie Radek
in dem Zuge unkontrolliert mitfahren dürfen. Aber ebenso wie Lenin hat
auch die deutsche Regierung Eile. Denn an diesem Tage, dem 5. April,
erklären die Vereinigten Staaten Amerikas Deutschland den Krieg.
Und so erhält Fritz Platten am 6. April mittags den
denkwürdigen Bescheid: »Angelegenheit in gewünschtem Sinne geordnet.« Am
9. April 1917, um halb drei Uhr, bewegt sich vom Restaurant
Zähringerhof ein kleiner Trupp schlechtgekleideter, Koffer tragender
Leute zum Bahnhof von Zürich. Es sind im ganzen zweiunddreißig, darunter
Frauen und Kinder. Von den Männern ist nur der Name Lenins, Sinowjews
und Radeks weiter bekannt geblieben. Sie haben gemeinsam ein
bescheidenes Mittagsmahl genommen, sie haben gemeinsam ein Dokument
unterzeichnet, daß ihnen die Mitteilung des »Petit Parisien« bekannt
ist, wonach die russische provisorische Regierung beabsichtigt, die
durch Deutschland Reisenden als Hochverräter zu behandeln. Sie haben mit
ungelenken, schwerflüssigen Lettern unterschrieben, daß sie die ganze,
volle Verantwortung für diese Reise auf sich nehmen und alle Bedingungen
gebilligt haben. Still und entschlossen rüsten sie nun zu der
welthistorischen Fahrt. Ihre Ankunft auf dem Bahnhof verursacht
keinerlei Aufsehen. Es sind keine Reporter erschienen und keine
Photographen. Denn wer kennt in der Schweiz diesen Herrn Ulianow, der
mit zerdrücktem Hut, in einem abgetragenen Rock und lächerlich schweren
Bergschuhen
(er hat sie bis nach Schweden gebracht) da inmitten eines Trupps mit
Kisten beladener, korbbepackter Männer und Frauen schweigsam und
unauffällig einen Platz im Zuge sucht. Nicht anders sehen diese Leute
aus wie die zahllosen Auswanderer, die von Jugoslawien, von Ruthenien,
von Rumänien her oft in Zürich auf ihren Holzkoffern sitzen und ein paar
Stunden Rast halten, ehe man sie weiterbefördert ans französische Meer
und von dort nach Übersee. Die schweizerische Arbeiterpartei, die die
Abreise mißbilligt, hat keinen Vertreter gesandt, nur ein paar Russen
sind gekommen, um ein bißchen Lebensmittel und Grüße in die Heimat
mitzugeben, ein paar auch, um in der letzten Minute noch Lenin von »der
unsinnigen, der verbrecherischen Reise« abzumahnen. Aber die
Entscheidung ist gefallen. Um drei Uhr zehn Minuten gibt der Schaffner
das Signal. Und der Zug rollt fort nach Gottmadingen, zur deutschen
Grenzstation. Drei Uhr zehn Minuten, und seit dieser Stunde hat die
Weltuhr andern Gang.
Der plombierte Zug
Millionen vernichtender Geschosse sind in dem Weltkriege
abgefeuert worden, die wuchtigsten, die gewaltigsten, die weithin
tragendsten Projektile von den Ingenieuren ersonnen worden. Aber kein
Geschoß war weittragender und schicksalsentscheidender in der neueren
Geschichte als dieser Zug, der, geladen mit den gefährlichsten,
entschlossensten Revolutionären des Jahrhunderts, in dieser Stunde von
der Schweizer Grenze über ganz Deutschland saust, um in Petersburg zu
landen und dort die Ordnung der Zeit zu zersprengen.
In Gottmadingen steht auf den Schienen dieses einzigartige
Projektil, ein Wagen zweiter und dritter Klasse, in dem die Frauen und
Kinder die zweite Klasse, die Männer die dritte belegen. Ein
Kreidestrich auf dem Boden begrenzt als neutrale Zone das Hoheitsgebiet
der Russen gegen das Abteil der zwei deutschen Offiziere, welche diesen
Transport lebendigen Ekrasits begleiten. Der Zug rollt ohne Zwischenfall
durch die Nacht. Nur in Frankfurt stürmen plötzlich
deutsche Soldaten heran, die von der Durchreise russischer Revolutionäre
gehört haben, und einmal wird ein Versuch der deutschen
Sozialdemokraten, sich mit den Reisenden zu verständigen,
zurückgewiesen. Lenin weiß wohl, welchem Verdacht er sich aussetzt, wenn
er ein einziges Wort mit einem Deutschen auf deutschem Boden wechselt.
In Schweden werden sie feierlich begrüßt. Ausgehungert stürzen sie über
den schwedischen Frühstückstisch, dessen Smörgås ihnen wie ein
unwahrscheinliches Wunder erscheint. Dann muß sich Lenin erst statt
seiner schwerfälligen Bergstiefel noch neue Schuhe kaufen lassen und ein
paar Kleider. Endlich ist die russische Grenze erreicht.
Das Projektil schlägt ein...
http://gutenberg.spiegel.de/buch/sternstunden-der-menschheit-6863/13